Echt Vintage: Alte Bahnstrecken frisch aufgemöbelt
Unrentabel. Stillgelegt. Dieses Schicksal hat vor Jahrzehnten viele Bahnstrecken in Baden-Württemberg ereilt. Verkehrswende und Klimaschutz hauchen den alten Gleisen jetzt neues Leben ein. Ein Booster für die Anbindung im Land?

Kein Geld für ein eigenes Auto? In den 1970er Jahren galt man da als Loser. Und war als solcher auf die eher verpönte Nutzung von Bus und Bahn angewiesen. Daran erinnert sich auch Michael Stierle. Er ist heute einer der Macher, die sich für die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken ins Zeug legen.

„Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem Trend zum Individualverkehr wurden vor allem Zugverbindungen im ländlichen Raum immer weniger genutzt. Die Folge: Züge fuhren immer seltener und schließlich gar nicht mehr“, weiß Stierle. Inzwischen denken die Menschen jedoch anders.
Sanierung lohnt sich für 30 Strecken im Land
Viele Pendlerinnen und Pendler entscheiden sich heute ganz bewusst gegen ein Auto. Oder lassen es stehen, um mit dem ÖPNV ohne Stress und Stau ins Büro zu kommen. Von der Suche nach einem Parkplatz und den Gebühren dafür ganz zu schweigen.
Auch die Politik übernimmt Verantwortung. Baden-Württemberg will den öffentlichen Nahverkehr bis zum Jahr 2030 verdoppeln. Dazu soll auch die Wiederbelebung stillgelegter Gleise beitragen – von Bund und Land wird sie finanziell gefördert.
Bessere Anbindung: Michael Stierle legt sich ins Zeug

Ein Beispiel: Die „Hermann-Hesse-Bahn“ zwischen Calw und Weil der Stadt. Unter diesem Namen sollen hier ab 2023 wieder Züge rollen – auf neu aufgefrischten Gleisen, die seit fast 35 Jahren brach liegen. In Baden-Württemberg gehört sie zu den 30 Strecken, von denen man sich am meisten verspricht und die deshalb auf der Reaktivierungs-Liste ganz oben stehen.
„Die Modellrechnung hat ergeben, dass pro Tag 2.800 Berufspendler und Schüler auf der Strecke unterwegs sein werden“, so Michael Stierle. Er ist Geschäftsführer des Zweckverbands Hermann-Hesse-Bahn, der die Realisierung des Bahnprojekts und den Betrieb zur Aufgabe hat. „Und dabei noch gar nicht mitgerechnet sind Ausflügler und Touristen – also Fahrgäste, die die Bahnverbindung in die Naherholungsgebiete im Schwarzwald und im Nagoldtal nutzen werden.“

Von Weil der Stadt soll die Hermann-Hesse-Bahn sogar weiter bis nach Renningen fahren. Mit nur einem Umstieg kommt man dann mit der S-Bahn direkt nach Stuttgart und Böblingen/Sindelfingen. In Gegenrichtung ist auch das eine vielversprechende Pendler-Verbindung: Mittelständische Betriebe in Weil der Stadt und Calw beschäftigen Mitarbeiter aus der gesamten Metropolregion – nicht zu vergessen den Bosch-Forschungscampus in Renningen.
Die Arbeiten sind in vollem Gange
Damit die Hermann-Hesse-Bahn zuverlässig und schnell ihr Ziel erreicht, muss die Trasse komplett saniert werden. Neue Schienen, Schwellen und Schotter werden eingebaut und die Entwässerung der Strecke ertüchtigt.
Bestehende Brücken und marode Stützmauern müssen ebenfalls wieder auf Vordermann gebracht werden. Und in den historischen Tunneln bekommen die Fledermäuse, die sich dort angesiedelt haben, abgetrennte Wohnkammern. Damit ist ihr Lebensraum trotz Bahnverkehr geschützt. Am Hacksberg entsteht sogar ein knapp 500 Meter langer Tunnel, um Wegstrecke und damit Fahrtzeit zu reduzieren.

Die Bahn bringt neue Bewohner in die Region
Michael Stierle ist mit den Menschen vor Ort laufend im Austausch. Daher weiß er: „Die Bahnanbindung des Landkreises Calw wird auch eine Aufwertung der Region als attraktiver Wohnstandort außerhalb der Großstadt mit sich bringen – vor allem für junge Familien.“
Umgekehrt hat er auch weniger angenehme Diskussionen mit Anwohnern geführt, die künftig an einer wiederbelebten Bahnstrecke wohnen. Tosender Güterverkehr wird auf den Gleisen aber nicht rollen. Außerdem werden Schienenstegdämpfer sowie Schallschutzfenster stellenweise dafür sorgen, dass die Ruhe so wenig wie möglich gestört wird. Eine Schallschutzwand erfordern die Grenzwerte an dieser Strecke nicht.
Mehr ÖPNV schafft attraktive Lebensräume
Michael Stierle ist einer, der über den eigenen Tellerrand hinausdenkt. Und so werden, wenn der Zweckverband zustimmt, die Züge der Hermann-Hesse-Bahn vom ersten Tag an batterieelektrisch betrieben werden, und nicht wie ursprünglich geplant zunächst noch mit Diesel.
„Der Wunsch der Bevölkerung nach einem funktionierenden ÖPNV ist ganz klar erkennbar“, sagt Stierle. Seine Vision: „In der konsequenten Umsetzung wird das zu weniger Verkehr auf den Straßen führen, sodass wir die in Zukunft zurückbauen und dadurch die Innenstädte als Lebensräume wieder attraktiver machen können.“
Magazin-Artikel veröffentlicht am 30.04.2021